Sachverständigenbeweis trotz Verspätung: Pflichtgemäßes Ermessen des Gerichts nach § 144 ZPO

Ein Beitrag von Rechtsanwalt Gerhard Ruby


📄 Einleitung: Beweisaufnahme mit medizinischem Schwerpunkt

In erbrechtlichen Prozessen, insbesondere bei der Frage der Testierunfähigkeit, ist die Begutachtung durch einen medizinischen Sachverständigen oftmals unverzichtbar. Gerade hier stellt sich häufig die Frage, ob ein verspäteter Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens vom Gericht zurückgewiesen werden darf. Die Antwort lautet: Nicht ohne weiteres. Denn das Gericht hat auch bei verspäteten Anträgen nach § 144 ZPO zu prüfen, ob der Sachverständigenbeweis notwendig ist.


⚖️ Die Rechtslage: § 144 ZPO und das Ermessen des Gerichts

Nach § 144 Abs. 1 ZPO kann das Gericht „nach pflichtgemäßem Ermessen“ die Begutachtung durch einen Sachverständigen anordnen, wenn dies zur Sachaufklärung erforderlich ist. Das bedeutet: Auch ohne ausdrücklichen Antrag der Parteien kann und muss das Gericht einen Sachverständigen hinzuziehen, wenn die Komplexität des Falles dies gebietet.

Diese Ermessensentscheidung darf nicht schematisch mit dem Hinweis auf Verspätung umgangen werden. Das ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.


🔹 Wichtige BGH-Entscheidung: Kein Verspätungseinwand bei notwendigem Gutachten

In seiner Entscheidung vom 29. April 1982 (BGH, Urt. v. 29.04.1982 – I ZR 70/80, NJW 1982, 2317, 2319) hat der BGH klargestellt, dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht mit dem Argument der Verspätung abgelehnt werden darf, wenn das Gericht aus eigener Verantwortung zur Aufklärung verpflichtet ist:

„Das Berufungsgericht hätte von Amts wegen, also auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag von Seiten des Klägers, nach pflichtgemäßem Ermessen prüfen und entscheiden müssen, ob der Sachverständigenbeweis […] zu erheben ist (§ 144 ZPO).“

Ein bloßer Verweis auf die Verspätung des Beweisantrags genügt daher nicht, um die Beweiserhebung abzulehnen, wenn die Frage entscheidungserheblich ist.


🔹 Bedeutung für Erbfälle: Testierunfähigkeit als Paradebeispiel

In Fällen der Testierunfähigkeit ist medizinisches Fachwissen unerlässlich. Parteien sind hier auf die fachkundige Begleitung durch Sachverständige angewiesen. Wenn eine Partei spät einen Antrag auf Einholung eines medizinischen Gutachtens stellt, etwa zur psychischen Verfassung des Erblassers, darf das Gericht diesen Antrag nicht ohne weiteres wegen Verspätung ablehnen, sondern muss prüfen, ob der Beweis zur Aufklärung der Wahrheit erforderlich ist.


🔹 Fazit: Gerichtliche Pflicht zur Aufklärung geht vor Parteiverspätung

Die richterliche Aufklärungspflicht und das Ermessen gem. § 144 ZPO schützen die Wahrheitsfindung im Zivilprozess. Sachverständigenbeweise dürfen nicht leichtfertig unter Verweis auf verspätetes Vorbringen abgelehnt werden, wenn die streitige Frage entscheidungserheblich ist.

Im Prinzip gilt der Grundsatz, den eine Richterin wie folgt formulierte. Beim Sachverständigenbeweis gibt es keine Verspätung

Tipp für Praktiker: In medizinisch oder wirtschaftlich komplexen Fällen lohnt sich auch in der Berufungsinstanz ein Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens – das Gericht muss diesen prüfen. Wird dies versagt, kann ein entsprechender Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH entscheidend sein.


Rechtsanwalt Gerhard Ruby
Fachanwalt für Erbrecht

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