„Sage nicht, Du kennst einen Menschen, bevor Du nicht ein Erbe mit ihm geteilt hast.“
– Johann Caspar Lavater, Pfarrer, Philosoph, Aufklärer (1741–1801)
Ich habe diesen Satz oft zitiert – an langen Abenden im Gespräch mit Mandanten, am Ende zäher Verhandlungen, manchmal auch nur für mich selbst, wenn ich nach einem Erbstreit nachdenklich das Büro verließ.
Denn Lavater hatte recht: Nichts enthüllt das Wesen des Menschen so schonungslos wie das Erben.
Der Erbfall als Prüfstein der Seele
In meiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Fachanwalt für Erbrecht habe ich erlebt, wie freundlich gesinnte Geschwister sich plötzlich gegenüberstehen wie Fremde. Ich habe gesehen, wie die Witwe in ihren Kindern nach dem Tod ihres Mannes nur noch den Anspruchsgegner vermuten. Und ich habe erlebt, wie alte Verletzungen – Jahrzehnte lang verschüttet – durch ein Testament an die Oberfläche gespült wurden. Entsprechend habe ich einmal in Wilhelm-Busch-Manier (mehr schlecht als recht) gedichtet:
Beim Erbenstreit wird offenbar, was immer unter’m Teppich war
Ein Erbfall ist nicht nur eine juristische Angelegenheit. Er ist ein psychologisches Minenfeld. Und ein Spiegel.
Erben ist menschlich – und zutiefst aufwühlend
Wer erbt, wird nicht nur Begünstigter. Er wird auch Nachlassverwalter innerer Konflikte: Erinnerungen, Erwartungen, unausgesprochene Vergleiche. Wer was bekommt, ist selten nur eine Frage der Logik – sondern immer auch eine des Empfindens.
Ich glaube, Lavater meinte genau das: Der wahre Charakter eines Menschen zeigt sich nicht, wenn alles gut läuft. Sondern dann, wenn ein Erbe geteilt werden muss. Wenn es um Gerechtigkeit geht – und um das, was jeder darunter versteht.
Der Versuch, Ordnung zu schaffen – im Leben wie im Tod
Meine Aufgabe als Erbrechtsanwalt ist es nicht nur, Paragraphen zu interpretieren. Sondern auch, zwischen den Zeilen zu lesen. Das Unausgesprochene zu verstehen. Frieden zu stiften, wo es juristisch eigentlich nur um Verteilung geht. Und dabei immer im Blick zu behalten: Hinter jeder Erbquote steht ein Mensch. Mit Ängsten, Hoffnungen, Erinnerungen.
Deshalb plädiere ich seit Jahren für vorausschauende Gestaltung – klare Testamente, zu Lebzeiten besprochene Lösungen, notfalls durchdachte Teilungsversteigerungen. Denn: Ein kluger Erblasser schützt seine Erben nicht nur vor dem Finanzamt. Sondern auch vor sich selbst.
Was uns Lavater heute noch lehrt
Wir leben in einer Zeit der Entgrenzung – künstliche Intelligenz beantwortet Suchanfragen schneller als je zuvor, digitale Avatare entwerfen juristische Schriftsätze in Sekunden. Und doch bleibt das Erben zutiefst menschlich. Vielleicht der menschlichste aller Rechtsbereiche.
Denn kein Algorithmus kennt das Herz eines Bruders, der sich ungerecht behandelt fühlt. Keine KI spürt den stillen Groll einer Tochter, die sich vom Vater nie gesehen fühlte. Und kein Gesetz kann all das heilen, was zu Lebzeiten ungeklärt blieb.
Lavater war Pfarrer. Er wusste um die Schatten des Menschen – und um das Licht, das in jeder Entscheidung liegt. Vielleicht wollte er uns auch daran erinnern: Wer ein Erbe teilt, teilt nicht nur Besitz. Sondern auch Verantwortung. Und manchmal – wenn man es richtig macht – auch Versöhnung.
Ihr
Gerhard Ruby
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Erbrecht
ruby-erbrecht.com