📄 Altverfügungen im Lichte des Europäischen Erbrechts: Wann gilt das Heimatrecht trotz Aufenthaltsstatut?
🔍 Hintergrund: Die Europäische Erbrechtsverordnung (EuErbVO)
Seit dem 17. August 2015 gilt die Europäische Erbrechtsverordnung Nr. 650/2012 (EuErbVO). Sie regelt, welches Erbrecht bei grenzüberschreitenden Fällen in der EU anzuwenden ist. Der Grundsatz lautet:
✉️ Art. 21 Abs. 1 EuErbVO: „Auf die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen ist das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.“
Das bedeutet: In der Regel gilt das Aufenthaltsrecht des Erblassers, nicht sein Heimatrecht (Staatsangehörigkeitsrecht).
🔄 Art. 83 Abs. 4 EuErbVO: Schutz für alte Testamente
Aber was ist mit Testamenten, die vor dem 17.08.2015 errichtet wurden? Hier greift eine Übergangsregelung:
✉️ Art. 83 Abs. 4 EuErbVO: „Wurde eine Verfügung von Todes wegen vor dem 17. August 2015 nach dem Recht errichtet, welches der Erblasser gemäß dieser Verordnung hätte wählen können, so gilt dieses Recht als das auf die Rechtsfolge von Todes wegen anzuwendende gewählte Recht.“
📌 Beispiel: Ein italienischer Staatsangehöriger errichtet 2008 in Italien ein Testament, lebt aber zum Todeszeitpunkt 2022 in Deutschland. Nach Art. 21 wäre eigentlich deutsches Recht anzuwenden. Aber: Ist das Testament nach italienischem Recht wirksam, so wird italienisches Erbrecht als „gewählt“ fingiert.
🧐 Wann greift diese Fiktion wirklich?
Neuere juristische Literatur (z. B. Amann, DNotZ 2019, 326 ff.) mahnt zur Vorsicht:
💡 Die Fiktion des Art. 83 Abs. 4 EuErbVO gilt nicht automatisch für jede Altverfügung.
Sie greift nur dann sinnvoll ein, wenn der Erblasser aus einem Land stammt, das vor der EuErbVO das Staatsangehörigkeitsstatut kannte (z. B. Italien, Polen, Griechenland). In diesen Fällen darf der Erblasser darauf vertrauen, dass sein Heimatrecht für sein Testament gilt.
🚨 Achtung: Die Fiktion soll keinen Statutenwechsel auslösen! Sie soll nicht das Aufenthaltsstatut überlagern, sondern nur eine stillschweigende Rechtswahl unterstellen, wo der Testator dies aus seiner Sicht erwartet hätte.
🧳 Ziel der Vorschrift
🚶♂️ Schutz des Vertrauens des Erblassers: Ein Erblasser, der 2008 nach dem Recht seines Heimatstaates testiert hat (z. B. italienisches Recht), soll nicht durch die neue Erbverordnung „bestraft“ werden, wenn sich nun das Erbrecht nach seinem Aufenthaltsstaat richten würde.
💳 Praxisrelevanz: Besonders wichtig bei grenzüberschreitenden Nachlässen, etwa bei Immobilienbesitz im Ausland oder Wegzug ins Ausland im Alter.
✅ Fazit für die Praxis
- 🌎 Grundregel: Aufenthaltsstatut entscheidet über das Erbrecht (Art. 21).
- 📅 Ausnahme: Bei Altverfügungen vor dem 17.08.2015 kann das Heimatrecht „fingiert gewählt“ sein (Art. 83 Abs. 4).
- 🌟 Voraussetzung: Testament muss nach dem Heimatrecht wirksam sein, das zuvor Staatsangehörigkeitsstatut kannte.
- ⚠️ Keine automatische Anwendung: Prüfung im Einzelfall nötig!
🔗 Tipp: Lassen Sie Altverfügungen aus der Zeit vor 2015 unbedingt auf ihre Wirksamkeit und das anwendbare Recht überprüfen – gerade bei Auslandsvermögen oder Wohnsitzwechsel!
Achtung: Deutsches Nachlassgericht zuständig
In einem grenzüberschreitenden Erbfall – z.B. italienischer Erblasser mit letztem gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland – stellt sich die Zuständigkeitsfrage für das Europäische Nachlasszeugnis (ENZ) nach der Europäischen Erbrechtsverordnung (EuErbVO). Diese regelt sowohl das zuständige Gericht als auch das anwendbare Erbrecht.
⚖️ Zuständigkeit für das Europäische Nachlasszeugnis:
Die gerichtliche Zuständigkeit richtet sich nach Art. 4 EuErbVO:
📝 Art. 4 EuErbVO:
„Für Entscheidungen in Erbsachen ist die **gerichtliche Zuständigkeit bei dem Gericht des Mitgliedstaats gegeben, in dem der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.“
📍 Ergebnis für deinen Fall:
- Letzter gewöhnlicher Aufenthalt des Erblassers: Deutschland
- 👉 Zuständiges Nachlassgericht: deutsches Nachlassgericht, in dessen Bezirk der Erblasser zuletzt gewohnt hat
Das gilt auch für die Ausstellung des Europäischen Nachlasszeugnisses gemäß Art. 64 Abs. 1 EuErbVO, wonach das ENZ von dem Gericht oder der Behörde des Staates erteilt wird, das für den Erbfall zuständig ist.
❗ Besonderheit: fingierte Rechtswahl zugunsten des italienischen Erbrechts
Auch wenn nach Art. 83 Abs. 4 EuErbVO ausnahmsweise italienisches Erbrecht anzuwenden ist, bleibt es bei der gerichtlichen Zuständigkeit Deutschlands, da sich diese nicht nach dem anwendbaren Recht, sondern nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers richtet.
✅ Fazit:
- 📌 Zuständig für die Ausstellung des ENZ ist das deutsche Nachlassgericht, auch wenn inhaltlich italienisches Erbrecht (z. B. durch Art. 83 Abs. 4 EuErbVO) anzuwenden ist.
- 📎 Das deutsche Nachlassgericht muss bei der Ausstellung des ENZ dann italienisches Erbrecht berücksichtigen, ggf. unter Mitwirkung eines Erbrechtsexperten oder durch Vorlage ausländischer Rechtsquellen (häufig über Gutachten, § 293 ZPO).
- Auch wenn eine wirksame Rechtswahl (ausdrücklich oder fingiert nach Art. 83 Abs. 4 EuErbVO) vorliegt, verlagert sich die internationale Zuständigkeit nicht automatisch auf die Gerichte des gewählten Heimatrechtsstaates.
- Dies wird von der EuErbVO ausdrücklich an zusätzliche Voraussetzungen geknüpft (Art. 5–7).
🔹 Zuständigkeitsverlagerung aber durch:
- 📝 Art. 5 EuErbVO: Vereinbarung zwischen Verfahrensbeteiligten, dass die Gerichte des gewählten Rechtsstaates zuständig sind.
- 📩 Art. 6 lit. a EuErbVO: Antrag eines Beteiligten, woraufhin sich das Gericht des Aufenthaltsstaats für unzuständig erklären kann, wenn:
- eine Rechtswahl (Art. 22 oder Art. 83 Abs. 4 EuErbVO) vorliegt und
- die Gerichte im Recht des gewählten Staates besser geeignet erscheinen (besondere Umstände!)
- 🛑 Achtung: Diese Verlagerung ist kein Automatismus, sondern setzt eine aktive Mitwirkung eines Beteiligten voraus.
🔹 Bedeutung für das Europäische Nachlasszeugnis (ENZ):
- Art. 64 EuErbVO: Das Gericht (oder die Behörde), das für die Nachlasssache zuständig ist, stellt das ENZ aus.
- Wenn keine Zuständigkeitsverlagerung nach Art. 5–7 erfolgt ist, bleibt also das Nachlassgericht des Aufenthaltsstaates zuständig.
- Dieses Gericht hat dann ggf. das ausländische Recht (Heimatrecht) anzuwenden, weil es durch Rechtswahl (auch fingiert) anzuwenden ist.
✅ Fazit:
- Eine fingierte Rechtswahl nach Art. 83 Abs. 4 EuErbVO führt nicht automatisch zur Zuständigkeit des Heimatrechtsstaates.
- Die Zuständigkeit verbleibt beim Gericht des letzten gewöhnlichen Aufenthalts gemäß Art. 4 EuErbVO – es sei denn, es wurde ein Antrag oder eine Vereinbarung nach Art. 5 oder Art. 6 EuErbVO getroffen.
- Für das Europäische Nachlasszeugnis ist also das deutsche Nachlassgericht zuständig, wenn der italienische Erblasser zuletzt in Deutschland gewohnt hat – auch wenn italienisches Erbrecht anzuwenden ist.