Mehrheit in der Erbengemeinschaft. Erklärt von Rechtsanwalt Gerhard Ruby, Fachanwalt für Erbrecht, Konstanz, Radolfzell, Rottweil, Villingen-Schwenningen.

Mehrheit in der Erbengemeinschaft
Frage:

Gilt in der Erbengemeinschaft ein Mehrheitsgrundsatz oder gibt es dort auch einen Minderheitenschutz?

Antwort:

Im Rahmen ordnungsmäßiger Verwaltung kann die Erbenmehrheit (die Mehrheit der Erbteile) Maßnahmen nicht nur beschließen, sondern auch die erforderlichen Verpflichtungsverträge abschließen. Die Mehrheit kann also die zum Beispiel die Vermietung einer zum Nachlass gehörenden Eigentumswohnung oder den Abschluss eines Werkvertrages zur Reparatur des Balkons des geerbten Hauses beschließen und auch den dazu gehörenden Vertrag abschließen. Der Beschluss soll die Mehrheit zur Vertretung der überstimmten Minderheit berechtigen. Beschluss und Vertragsschluss können in einer Handlung (also Abschluss des Verpflichtungsvertrages) zusammenfallen. Ob der Mehrheitsgrundsatz auch für sogenannte Verfügungsgeschäfte gilt, ist umstritten, wobei es auch in diesem Bereich jetzt neue BGH- und OLG-Entscheidungen gibt, wonach Pachtverträge und Mietverträge und Sparverträge durch die Mehrheit ohne Beteiligung der Minderheit gekündigt werden können. Es handelt sich hierbei aber um Entscheidungen des Landwirschaftssenats und des für Mietrecht zuständigen XII. Senats.  Eine Entscheidung des Erbrechtssenats  (IV. Senat) zum Mehrheitsgrundsatz bei Verfügungsgeschäften liegt noch  nicht vor.

Frage:

Gibt es eigentlich Gründe, die gegen diesen Mehrheitsgrundsatz sprechen?

Antwort:

Ja, nämlich:

  • Die überstimmte Minderheit muss die Mehrheit zum Abschluss der Geschäfte nach §§ 164 ff. BGB bevollmächtigen. Tut die Minderheit dies nicht, liegt keine Vertretungsmacht der Mehrheit vor. Sie muss dann die Minderheit auf Erteilung der Vollmacht verklagen.
  • Der Mehrheitsgrundsatz geht auf Kosten des Schutzes der Minderheit, insbesondere dann, wenn man der Ansicht ist, dass der Mehrheitsbeschluss ohne Anhörung der Erben wirksam ist. Die Minderheit kann durch die Erbenmehrheit vor vollendete Tatsachen gestellt werden, weil eine absolute Mehrheitsherrschaft vorläge. Es kann nicht sein, dass die Erbenminderheit mit ihrem Privatvermögen für Nachlassgeschäfte einstandspflichtig wird, ohne etwas davon zu wissen.
  • Die Erbengemeinschaft wurde zum Schutz der ursprünglichen Nachlassgläubiger als schwerfällige Gesamthand ausgestaltet. Es ist fraglich, ob es der Schutz der  bisherigen Nachlassgläubiger (aber auch der einzelnen Miterben) es nicht verlangt, dass alle Miterben beim Abschluss des Verpflichtungsgeschäfts mitwirken.
  • Nach § 2038 S. 1 steht die Verwaltung den Miterben gemeinschaftlich zu. Es darf also keiner bei Verwaltungsmaßnahmen  ausgeschlossen werden. Das entspricht dem Gesamthandsprinzip des BGB, wonach alle Gesamthänder gemeinsam handeln müssen, um Rechtswirkungen herbeizuführen.
  • § 745 BGB, auf den § 2038 Abs. 2 BGB verweist, betrifft seinem Wortlaut nach die Beschlussfassung, also die Willensbildung und nicht die Willensbetätigung.
  • Der Schutz der überstimmten Miterben und Nachlassgläubiger ist am besten gewahrt, wenn die Mehrheit die überstimmte Minderheit auf Mitwirkung beim Abschluss des Vertrages verklagen muss, denn dann kann durch das Gericht die Rechtmäßigkeit des Beschlusses vor dessen Ausführung geprüft werden.
    Für das Schrifttum, das nach dem Inkrafttreten des BGB erschien,  war klar, dass für den Abschluss eines alle Miterben verpflichtenden Vertrags alle Miterben mitwirken mussten. Für die Schriftsteller war klar, dass die BGB-Erbengemeinschaft sich der Gesamthand preußischen Rechts anschloss, die man aus dem preußischen Allgemeinen Landrecht (ALR)  kannte.

    ALR I. 17 Titel §§ 10 ff. lauten: Rechte der Theilnehmer überhaupt.
    §. 10. Kein Theilnehmer kann, ohne Beystimmung der übrigen, über die gemeinschaftliche Sache, deren Besitz oder Benutzung, gültige Verfügungen treffen.
    §. 11. Selbst durch die Mehrheit der Stimmen können die übrigen Theilnehmer in ihren Rechten nicht beeinträchtigt werden.
    §. 12. Wenn es aber auf Verfügungen über die Substanz der gemeinschaftlichen Sache, oder die Art ihrer Verwaltung oder Benutzung ankommt: so entscheidet in der Regel die Mehrheit der Stimmen.
    §. 13. Der mindere Theil der Miteigentümer muß sich also dem Schlusse der mehrern unterwerfen, oder die Aufhebung der Gemeinschaft fordern.
    §. 14. Wählt der Widersprechende Letzteres: so darf in der Zwischenzeit, bis zur vollendeten Auseinandersetzung, wider seinen Willen keine Veränderung vorgenommen werden.
    §. 15. Kann die Gemeinschaft entweder gar nicht, oder innerhalb einer gewissen noch nicht zu Ende gelaufenen Zeit nicht aufgehoben werden; so ist der Widersprechende befugt, auf richterliche Untersuchung: ob die von den übrigen Theilhabern beschlossene Verfügung zum gemeinschaftlichen Besten gereiche, anzutragen.
    §. 16. Findet sich dieses nicht: so darf wider den Willen auch nur Eines Theilhabers an der Sache, in deren Verwaltung und Benutzung nichts geändert werden.
    §. 17. Findet sich aber, daß die Verfügung zum gemeinschaftlichen Vortheile gereiche, und dem Widersprechenden unschädlich sey: so muß der Richter die Einwilligung des letztern ergänzen.
    §. 18. Ein Gleiches muß geschehen, wenn aus der streitigen zum gemeinschaftlichen Vortheile gereichenden Verfügung zwar einiger besondrer Schade für den Widersprechenden entsteht, die übrigen aber, ihn dafür vollständig schadlos zu halten, bereit und vermögend sind.
    §. 19. Ob, und wie, bloß zur Erhaltung der gemeinschaftlichen Sache Veranstaltungen zu treffen sind, muß schlechterdings nach der Mehrheit der Stimmen entschieden werden.
    §. 20. Eben so gilt die Stimmenmehrheit ohne weitere Rückfrage, wenn die Theilnehmer darüber, daß eine Veränderung getroffen werden müsse, einig sind, und nur über die Art, wie sie geschehen solle, gestritten wird.
    §. 21. Der Regel nach werden in allen Fällen, wo die Stimmenmehrheit entscheiden soll, die Stimmen nicht nach den Personen, sondern nach Verhältniß der Antheile der Interessenten gezählt.
    §. 22. Wenn es aber auf bloße persönliche Gerechtsame, und nicht auf die gemeinschaftliche Sache selbst, deren Verwaltung und Benutzung ankommt: so geschieht die Stimmenzählung nach den Personen.
    §. 23. Bey vorhandener Stimmengleichheit muß der Streit durch Compromiß, oder wenn auch darüber die Theilnehmer sich nicht einigen können, durch richterlichen Ausspruch entschieden werden.
    §. 24. Der Schieds- sowohl als der ordentliche Richter müssen, bey ihrer Entscheidung, nur auf das, was dem gemeinsamen Besten sämmtlicher Theilnehmer am zuträglichsten, und hiernächst auf das, was der eigentlichen Bestimmung der Sache am gemäßesten ist, Rücksicht nehmen.

    Verwaltung.
    §. 36. Auch die Verwaltung der Sache gebührt der Regel nach sämmtlichen Theilnehmern gemeinschaftlich.
    §. 37. Findet die gemeinschaftliche Verwaltung nach der Natur der Sache, nach dem Einverständnisse sämmtlicher Theilhaber, oder nach einer entscheidenden Stimmenmehrheit (§. 12-18.) nicht statt: so muß ein gemeinschaftlicher Administrator bestellt, oder die Sache für gemeinschaftliche Rechnung verpachtet werden.
    §. 38. Können die Theilhaber sich darüber: ob Pacht oder Administration statt finden solle, nicht vereinigen, so giebt lediglich die Mehrheit der Stimmen den Ausschlag.
    §. 39. Steht es fest, daß die Verpachtung statt haben soll, so hat die Meinung desjenigen, welcher auf öffentliche Versteigerung der Pacht anträgt, den Vorzug.

    Rechte und Pflichten der Gesellschafter gegen einen Dritten, besonders aus den Handlungen einzelner Theilnehmer.
    §. 52. Gemeinschaftliche Verträge der Theilnehmer mit einem Dritten sind, in Ansehung des Letztern, nach den Vorschriften der Gesetze von Correalverträgen, zu beurtheilen. (Tit. V. §. 424. sqq.)
    §. 53. Wenn ein Theilnehmer, vermöge eines Auftrages der Uebrigen, oder auch ohne dergleichen Auftrag, in Rücksicht der gemeinschaftlichen Sache, etwas mit einem Fremden verhandelt; so werden die Rechte und Pflichten, welche aus einer solchen Handlung zwischen ihm und dem Fremden, so wie zwischen diesem und den übrigen Theilnehmern entstehe, nach den Vorschriften des Dreyzehnten Titels im Ersten und Zweyten Abschnitte beurtheilt.
    §. 54. In Fällen, wo die Gesetze eine vermuthete Vollmacht zulassen, hat der Theilnehmer, welcher in Rücksicht der gemeinschaftlichen Sache etwas verhandelt, dergleichen vermuthete Vollmacht für sich. (Tit. XIII. §. 119. sqq.)
    §. 55. Was ein Theilnehmer, auch durch Verwendung des gemeinschaftlichen Vermögens, für sich selbst und auf seinen eignen Namen erwirbt, wird kein gemeinschaftliches Eigenthum der übrigen Theilnehmer.
    §. 56. Es steht aber diesen frey, von dem Erwerbenden die Abtretung des Miteigenthums der ganz oder zum Theil aus gemeinschaftlichem Vermögen erworbenen Sachen oder Rechte zu fordern.
    §. 57. Wollen sie dieses nicht, so muß der Erwerbende das Verwendete mit gesetzlichen Verzugszinsen zurückgeben.
    §. 58. Theilnehmer, deren Miteigenthum ohne ausdrücklichen Vertrag entstanden ist, dürfen einander, bey ihren Handlungen oder Unterlassungen in Rücksicht der gemeinschaftlichen Sache, nur für grobe und mäßige Versehen gerecht werden.
    §. 59. Hat aber ein Theilnehmer ohne Auftrag, oder gar wider den Willen der Uebrigen, etwas vorgenommen, was die ganze gemeinschaftliche Sache betrift: so haftet er für den dabey entstandenen Schaden, gleich einem Fremden. (Tit. XIII. Sect. II. III.)

    Wie ersichtlich unterscheidet das ALR zwischen Verwaltung einerseits (17. Titel §§ 36 bis 39) einerseits und dem Abschluss von Verträgen andererseits (17. Titel §§ 52 ff.). Wenn die Regelung des BGB zur ordnungsmäßigen Verwaltung hätte umfassen sollen,  hätte dies der Gesetzgeber sicherlich deutlich zum Ausdruck gebracht.

    § 17 zeigt im übrigen, dass der Richter die Einwilligung des Minderheitserben ergänzen muss. Die Erbenmehrheit hat nicht einfach das Recht zum Vertragsschluss.

    Das BGB will durch die Gesamthand die Interessen der Nachlassgläubiger und Miterben schützen. Der Bestand des Nachlasses soll erhalten bleiben, seine Veränderung die Mitwirkung aller Erben erfordern. Es soll die Erbenmehrheit nicht durch Eingehung von Verbindlichkeiten den Nachlass schädigen können oder durch Verfügungen den Nachlass mindern können.

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