Nachlasspfleger kann Herausgabe des Nachlasses aus § 1960 BGB verlangen
Nachlasspfleger kann Herausgabe des Nachlasses verlangen. Erklärt von Gerhard Ruby, Fachanwalt für Erbrecht. Konstanz, Radolfzell, Rottweil, Villingen-Schwenningen.
In einem Fall, den ich gerade bearbeite, macht der vom Nachlassgericht bestellte Nachlasspfleger gegen meine Mandantin klageweise Herausgabe- und Auskunftsansprüche aus §§ 2018, 2027 BGB geltend. D.h. den Erbschaftsanspruch gegen den Erbschaftsbesitzer. Erbschaftsbesitzer ist wer sich unter Anmaßung eines eigenen Erbrechts unrechtmäßig in den Besitz eines Nachlasses oder eines Teils davon bringt. Meine Mandantin ist aber ganz sicher Miterbin, wahrscheinlich sogar Alleinerbin. Letzteres ist aber leider noch nicht festgestellt, weil das Nachlassgericht das Erbscheinsverfahren seit drei Jahren liegen lässt. Für mich stellt sich jetzt die Frage, ob die Nachlasspflegerin aus §§ 2018 ff. BGB gegen meine Mandantin als Erbschaftsbesitzerin vorgehen kann. Die Nachlasspflegerin behauptet damit m.E. konkludent, dass sich meine Mandantin unter Anmaßung eines Allein- oder Miterbenrechts unrechtmäßig in den Besitz von Nachlassgegenständen gebracht hat. Sie bestreitet also jedenfalls die Alleinerbenstellung meiner Mandantin. Dies dürfte m.E. eine Widerklage gegen die Nachlasspflegerin rechtfertigen (Feststellungsinteresse), dass meine Mandantin Alleinerbin ist. Die Nachlasspflegerin hat den falschen Weg gewählt. Sie hätte Ihre Klage nicht mit §§ 2018, 2027 BGB, sondern mit § 1960 BGB begründen müssen.
Zur Frage, aus welchem Rechtsgrund die Nachlasspflegerin gegen einen Besitzer von Nachlassgegenständen vorgehen kann, hat der BGH bereits in einem Urteil vom 21. 6. 1972 – IV ZR 110/71 (Frankfurt) Stellung genommen. Der Bundesgerichtshof hat folgende Leitsätze aufgestellt:
a) Der zur Verwaltung des Nachlasses eingesetzte Nachlasspfleger kann unmittelbar aus seinem Recht die Herausgabe der Nachlassgegenstände verlangen.
b) Auch derjenige, der möglicherweise der wahre Erbe ist, ist zur Herausgabe verpflichtet, solange sein Erbrecht gegenüber dem Nachlaßpfleger nicht rechtskräftig festgestellt ist.
c) Dem auf Herausgabe Belangten steht wegen Verwendungen, die er auf den herausverlangten Gegenstand gemacht hat, ein Zurückbehaltungsrecht zu. Bei der Geltendmachung und Verwirklichung dieses Rechts sind die Zwecke der Nachlaßpflegschaft zu berücksichtigen.
BGH NJW 1972, 1752
Der Sachverhalt
Nach dem Tod Erblasserin L erteilte das Nachlassgericht der Beklagten B einen Erbschein als Alleinerbin und dem Kläger ein Testamentsvollstreckerzeugnis. Der Erbschein wurde auf Antrag eines gesetzlichen Miterben vom Nachlassgericht eingezogen. Ebenso das Testamentsvollstreckerzeugnis.
Der Kläger hatte seinerzeit als Testamentsvollstrecker der Beklagten ein zum Nachlass gehörige Hausgrundstück zur Verwaltung überlassen. Außerdem wurden das Grundbuch berichtigt und die Beklagte als Eigentümerin eingetragen.
Danach wurde der Kläger zum Nachlasspfleger für die unbekannten Erben der Erblasserin L. bestellt mit Wirkungskreis: Sicherung und Verwaltung des Nachlasses und Ermittlung der Erben.
Der klagende Nachlasspfleger erstrebt die Räumung und Herausgabe des von der Beklagten innegehaltenen Grundstücks. Die Beklagte hat sich darauf berufen, dass sie als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen sei. Sie hat hilfsweise ein Zurückbehaltungsrecht wegen behaupteter Verwendung auf das Haus im Gesamtbetrag von 12 846 DM und wegen des Anspruchs auf Vergütung ihrer Hausverwaltungstätigkeit von insgesamt 5500 DM geltend gemacht.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Revision der Beklagten zum Bundesgerichtshof führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.
Aus den Gründen des BGH-Urteils:
Die beklagte „Alleinerbin“ vertrat in ihrer Revision die Ansicht, das Oberlandesgericht sei verpflichtet gewesen, Beweise darüber zu erheben, ob sie rechtmäßige Erbin ist. Diese Ansicht wies der Bundesgerichtshof zurück.
Aufgabe des Klägers als Nachlasspfleger ist u.a. die Sicherung und Erhaltung des Nachlasses für den Erben. Er ist insoweit der gesetzliche Vertreter des Erben (RGZ 76, 125). Er hat den Nachlass in Besitz zu nehmen und kann von jedem, der Nachlassgegenstände in Besitz hat, deren Herausgabe verlangen. Dieser Anspruch richtet sich auch gegen denjenigen, der möglicherweise der wahre Erbe ist, wenn er Nachlassgegenstände in Besitz hat. Es ist nicht der Anspruch aus § 2018 BGB, sondern ein Anspruch, der sich unmittelbar aus dem Recht des Nachlasspflegers ergibt, da der Nachlasspfleger seine ihm übertragenen Aufgaben nicht wahrnehmen könnte, wenn ihm der Herausgabeanspruch nicht zustünde. Solange die Nachlasspflegschaft besteht, hat auch der wahre Erbe, dessen Erbrecht dem Nachlassfleger gegenüber noch nicht rechtskräftig festgestellt ist, kein Recht, die Erbschaftsgegenstände zu besitzen (vgl. RGRK-BGB 11. Aufl. § 1960 Anm. 22 m.w. Hinw.).
BGH NJW 1972, 1752
Das angefochtene Urteil musste aber aufgehoben werden, weil das Berufungsgericht nicht geprüft hatte, ob die Beklagte Ansprüche auf Ersatz von Verwendungen hat, die sie in Bezug auf den Nachlassgegenstand gemacht hat und ob ihr ein Anspruch auf Vergütung wegen der Verwaltung der Nachlassgegenstände zusteht (§ 2022 BGB).
Der Bundesgerichtshof hat in einer weiteren Entscheidung diese Rechtsauffassung bekräftigt:
BGH NJW 1983, 226
1. Der Nachlasspfleger hat nicht die Aufgabe zu klären, wer von mehreren Erbanwärtern der wirkliche Erbe ist. Diese Frage muss einer Klärung im Verhältnis der Erbanwärter überlassen bleiben.
2. Zum Zwecke einer solchen Klärung ist gegebenenfalls ein Pfleger für die unbekannten, möglicherweise zur Erbfolge berufenen Verwandten des Erblassers gem. § 1913 BGB zu berufen.
BGH, Urteil vom 06-10-1982 – IVa ZR 166/81 (Schleswig)
Der Sachverhalt
Hier verklagte der Nachlasspfleger Geschwister. Die beklagten Geschwister stammten aus der ersten Ehe ihres verstorbenen Vaters. Der Vater war in zweiter Ehe mit der nach ihm verstorbenen Erblasserin verheiratet. Der Vater der beklagten Geschwister wurde aufgrund Testaments zunächst von seiner zweiten Ehefrau und nach deren Tod von den zu Nacherben eingesetzten Beklagten beerbt. Nach dem Tode ihrer Stiefmutter nahmen die Beklagten sowohl den Nachlass ihres Vaters als auch denjenigen ihrer Stiefmutter in Besitz. Das Nachlassgericht sah die Erbfolge nach der Stiefmutter als ungeklärt an und bestellte den Kläger zum Nachlasspfleger mit dem Wirkungskreis “Sicherung und Verwaltung des Nachlasses, Ermittlung der Erben”. Der Kläger verlangt von den Beklagten 105.000 DM mit der Begründung, diesen Betrag hätten sie aus dem Nachlass ihrer Stiefmutter erlangt. Die Beklagten beriefen sich darauf, auch Erben ihrer Stiefmutter geworden zu sein. Diese habe sie in einem Brief an eine der Beklagten zu ihren Erben eingesetzt (Brieftestament).
Das Landgericht hatte die Klage ohne Begründung als eine solche der unbekannten Erben, vertreten durch den Nachlasspfleger, behandelt und hat sie dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG die Klage des Nachlasspflegers abgewiesen. Die Revision des Nachlasspflegers führte zur Aufhebung der Urteile beider Vorinstanzen und Zurückverweisung an das Landgericht.
Die Begründung des Bundesgerichtshofs
Ebenso wie das Landgericht hatte das Oberlandesgericht als Berufungsgericht die die Klage ohne Begründung als eine solche der unbekannten Erben, vertreten durch den Nachlasspfleger, angesehen. Dagegen hatte das Oberlandesgericht (OLG) – abweichend vom LG – die Klage für unbegründet gehalten, weil die Beklagten auch die Erben ihrer Stiefmutter geworden seien. Dabei hat das Oberlandesgericht – so der BGH – nicht erkannt, dass die Klage bei der von ihm angenommenen Sachlage unzulässig wäre. Wären die Beklagten nämlich tatsächlich die Erben ihrer Stiefmutter, dann stünden sie damit aus der Sicht des OLG, vertreten durch den Nachlasspfleger, zugleich auch auf der Klägerseite. Das wäre prozessual bedenklich und müsste zur Abweisung der Klage als unzulässig führen.
Kunstgriff des BGH
Um dieses prozessuale Problem zu „lösen“ greift der BGH zu einem Kunstgriff:
Indessen sind nicht die unbekannten Erben Kläger des vorliegenden Rechtsstreits, sondern der Nachlasspfleger persönlich. Die Klage ist ausdrücklich in seinem Namen erhoben. Ein Parteiwechsel auf der Klägerseite, der nach der ständigen Rechtsprechung des BGH an sich möglich gewesen wäre, ist ausweislich der Verfahrensakten weder für den Kläger persönlich noch für an seine Stelle tretende “unbekannte Erben“ erklärt worden. Ohne derartige Erklärungen (Prozesshandlungen) blieb es dabei, dass über die von dem ursprünglichen Kläger erhobene Klage zu entscheiden war. Daran ändert es nichts, dass LG und OLG die Klage ohne Begründung und ohne ersichtliche Erörterung als eine solche der unbekannten Erben behandelt und demgemäß über eine nicht erhobene Klage entschieden haben. Prozessuale Bedenken gegen die Zulässigkeit der Klage des Nachlasspflegers persönlich bestehen nicht.
BGH NJW 1983, 226
Hier wird dem Nachlasspfleger, der eigentlich Vertreter der endgültigen – wenn auch aktuell noch ungewissen – Erben ist, eine eigenständige Prozessrolle zugestanden.
Die Hauptaufgabe des Nachlasspflegers ist die Sicherung und Erhaltung des Nachlasses. Nach der Rechtsprechung des BGH ist er insoweit der gesetzliche Vertreter des oder der Erben. Diese Stellung des Nachlasspflegers als des gesetzlichen Vertreters des oder der (unbekannten) Erben schließe aber – so der BGH – nicht aus, dass der Pfleger persönlich die Rolle einer Prozesspartei wahrnimmt (vgl. § 780 Abs. 2 ZPO, § 40 Abs. 1 GBO) und als Kläger zum Nachlass gehörige Rechte einklage. Kommt die in Anspruch genommene Gegenpartei selbst als Erbe in Betracht, dann ist ein solches Vorgehen zur Vermeidung eines unzulässigen In-sich-Prozesses sogar prozessual geboten. Dem entspreche es, dass der Nachlasspfleger nach materiellem Recht nicht etwa darauf beschränkt sei, die Rechte der Erben als deren Vertreter geltend zu machen. Vielmehr habe er kraft Amtes darüber hinausgehende Rechte. Der Nachlasspfleger habe den Nachlass an sich zu nehmen und kann von jedem, der Nachlassgegenstände in Besitz hat, deren Herausgabe verlangen. Dieser Anspruch leitet sich nicht vom Erben ab, sondern ergibt sich unmittelbar aus seiner Rechtsstellung als Nachlasspfleger; ohne ihn könnte er die ihm übertragenen Aufgaben nicht erfüllen (BGH NJW 1972, 1752 !!!). Demgemäß könne der Nachlasspfleger auch gegen denjenigen vorgehen, der vorgibt, der Erbe zu sein, dessen Erbrecht aber noch nicht endgültig geklärt ist.
Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 22. 1. 1981 (NJW 1981, 2299) ausgeführt hat, werden erfahrungsgemäß die Interessen der wahren Erben in besonderem Maße von Seiten der mit ihnen konkurrierenden übrigen Erbprätendenten gefährdet. Die dem Nachlassgericht bei ungewisser Erbfolge (§ 1950 Abs. 1 S. 2BGB) obliegende Fürsorge für den Nachlass ist daher ihrer Tendenz nach bis zur Feststellung der wahren Erben in deren Interesse (vorläufig) gegen alle Erbprätendenten gerichtet. Diese Richtung bestimmt auch die Stellung des Nachlasspflegers, dessen sich das Nachlassgericht zur Erfüllung seiner Fürsorgeaufgaben bedient; dementsprechend ist der Nachlasspfleger berechtigt und verpflichtet, den Nachlass zunächst einmal vor sämtlichen Prätendenten “in Schutz” zu nehmen. Demgegenüber kann der in Anspruch genommene Erbprätendent sich grundsätzlich nicht auf sein Erbrecht berufen. Sein (mögliches) Erbrecht muss hier hinter das Fürsorgeinteresse vorläufig zurücktreten. Wer von den mehreren Erbanwärtern der wirkliche Erbe ist (oder wird), hat für die Entscheidung über das Herausgabeverlangen des Nachlasspflegers grundsätzlich keine Bedeutung. Diese Frage kann unter Umständen zwar auch zum Gegenstand einer Feststellungsklage des Anwärters gegen den Pfleger gemacht werden (BGH NJW 1951, 559), BGH NJW 1972, 1752, BGH NJW 1981, 22399, RGZ 106, 46 f. , OGHZ 4, 219 f.). Eine in diesem Verhältnis ergehende Entscheidung klärt die Rechtslage im Verhältnis der mehreren Prätendenten untereinander aber schon im Hinblick auf die subjektiven Grenzen der Rechtskraft nicht endgültig. Der Nachlasspfleger (§ 1960 BGB hat jedenfalls nicht die Aufgabe, insoweit eine Klärung herbeizuführen, und zwar selbst dann nicht, wenn ihm die Ermittlung der Erben ausdrücklich übertragen worden ist (vgl. Motive zum Entw. eines BGB V, S. 550 f.). Diese Frage muss vielmehr einer Klärung im Verhältnis der in Betracht kommenden Erbanwärter überlassen werden (RGZ 106, 46, 47). Stützen sich Erbanwärter auf ein Schriftstück des Erblassers, das – wie hier – nicht ohne weiteres als Testament anzusehen ist, und sind die als gesetzliche Erben in Betracht kommenden Personen nicht bekannt, dann kann eine solche Klärung allerdings erschwert sein. Derartige Schwierigkeiten sind jedoch nicht unüberwindlich. Sie können und müssen ohne Sprengung des Aufgabenkreises des Nachlasspflegers (§ 1960 BGB) gegebenenfalls mit Hilfe einer Pflegschaft für die unbekannten, möglicherweise zur gesetzlichen Erbfolge berufenen Verwandten das Erblassers (§ 1913 BGB) behoben werden.
BGH a.a.O.
Unter diesen Umständen musste das angefochtene Urteil aufgehoben werden.