Zugriff des Sozialamts auf den Nachlass des Sozialleistungsempfängers. Erklärt von Rechtsanwalt Gerhard Ruby
Zugriff des Sozialamts auf den Nachlass des Sozialleistungsempfängers
1. Der Zugriff auf den Nachlass infolge Sozialleistungsbezugs des Erblassers, §§ 102 SGB XII, 35 SGB II
Zunächst die kompliziert und umständlich formulierten Vorschriften, die sie biem Lesen gerne auch überspringen können:
- § 102 SGB XII regelt den Kostenersatz bei Sozialhilfebezug des Erblassers.
- § 35 SGB II regelt den Kostenersatz bei Bezug von Arbeitslosengeld II durch den Erblasser.
§ 102 SGB XII. Kostenersatz durch Erben
(1) Der Erbe der leistungsberechtigten Person oder dessen Ehegatte oder dessen Lebenspartner, falls diese vor der leistungsberechtigten Person sterben, ist vorbehaltlich des Absatzes 5 zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe verpflichtet. Die Ersatzpflicht besteht nur für die Kosten der Sozialhilfe, die innerhalb eines Zeitraumes von zehn Jahren vor dem Erbfall aufgewendet worden sind und die das Dreifache des Grundbetrages nach § 85 Abs. 1 übersteigen. Die Ersatzpflicht des Erben des Ehegatten oder Lebenspartners besteht nicht für die Kosten der Sozialhilfe, die während des Getrenntlebens der Ehegatten oder Lebenspartner geleistet worden sind. Ist die leistungsberechtigte Person der Erbe ihres Ehegatten oder Lebenspartners, ist sie zum Ersatz der Kosten nach Satz 1 nicht verpflichtet.
(2) Die Ersatzpflicht des Erben gehört zu den Nachlassverbindlichkeiten. Der Erbe haftet mit dem Wert des im Zeitpunkt des Erbfalles vorhandenen Nachlasses.
(3) Der Anspruch auf Kostenersatz ist nicht geltend zu machen,
1. soweit der Wert des Nachlasses unter dem Dreifachen des Grundbetrages nach § 85 Abs. 1 liegt,
2. soweit der Wert des Nachlasses unter dem Betrag von 15 340 Euro liegt, wenn der Erbe der Ehegatte oder Lebenspartner der leistungsberechtigten Person oder mit dieser verwandt ist und nicht nur vorübergehend bis zum Tod der leistungsberechtigten Person mit dieser in häuslicher Gemeinschaft gelebt und sie gepflegt hat,
3. soweit die Inanspruchnahme des Erben nach der Besonderheit des Einzelfalles eine besondere Härte bedeuten würde.
(4) Der Anspruch auf Kostenersatz erlischt in drei Jahren nach dem Tod der leistungsberechtigten Person, ihres Ehegatten oder ihres Lebenspartners. § 103 Abs. 3 Satz 2 gilt entsprechend.
(5) Der Ersatz der Kosten durch die Erben gilt nicht für Leistungen nach dem Vierten Kapitel und für die vor dem 1. Januar 1987 entstandenen Kosten der Tuberkulosehilfe§ 35 SGB II Erbenhaftung
(1) Der Erbe eines Empfängers von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist zum Ersatz der Leistungen verpflichtet, soweit diese innerhalb der letzten zehn Jahre vor dem Erbfall erbracht worden sind und 1 700 Euro übersteigen. Die Ersatzpflicht ist auf den Nachlasswert im Zeitpunkt des Erbfalles begrenzt.
(2) Der Ersatzanspruch ist nicht geltend zu machen,
1. soweit der Wert des Nachlasses unter 15 500 Euro liegt, wenn der Erbe der Partner des Leistungsempfängers war oder mit diesem verwandt war und nicht nur vorübergehend bis zum Tode des Leistungsempfängers mit diesem in häuslicher Gemeinschaft gelebt und ihn gepflegt hat,
2. soweit die Inanspruchnahme des Erben nach der Besonderheit des Einzelfalles eine besondere Härte bedeuten würde.
(3) Der Ersatzanspruch erlischt drei Jahre nach dem Tod des Leistungsempfängers. § 34 Abs. 3 Satz 2 gilt sinngemäß.
Nach §§ 102 SGB XII, 35 SGB II sind die Erben des Sozialleistungsempfängers zum Ersatz der innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren vor dem Erbfall aufgewendeten Sozialleistungen verpflichtet.
Zu beachten ist, dass auch die den Ehegatten des Sozialleistungsbeziehers Beerbenden, für die Sozialhilfe des Hilfeempfängers während der letzten zehn Jahre einstandspflichtig sind, falls der Ehegatte des Hilfeempfängers vor diesem stirbt. Dies folgt aus dem Gedanken der Bedarfsgemeinschaft. Die Erben des Ehegatten wie auch die späteren Erben des Leistungsbeziehers haften jeweils selbständig und ohne Subsidiaritätsverhältnis nebeneinander (BVerwG, FamRZ 2004, 455).
Regress kann aber nur für rechtmäßig aufgewendete Sozialhilfe verlangt werden. Nach BayVGH, FamRZ 2004, 488 besteht keine Erbenhaftung für Sozialhilfe, die trotz Vorhandensein eines unangemessen großen Eigenheims gewährt wurde, z.B. weil der Sozialleistungsträger unzutreffend von Schonvermögen ausging .Der Sozialleistungsträger ist darauf verwiesen, die Bewilligungsbescheide aufzuheben und die Leistungen vom Erben nach §§ 45, 50 SGB XI zurückzufordern.
Da nur rechtmäßig aufgewendete Sozialhilfe zurückgefordert werden kann, ergibt sich ein Wertungswiderspruch: Ist Sozialhilfe zu Unrecht an den Erblasser erbracht worden, darf der Erbe den Nachlass (zu großes „Schonvermögen) behalten, weil § 102 SGB XII unanwendbar ist. Andererseits verliert der Erbe eines Sozialhilfeempfängers der rechtmäßige Leistungen wegen eines „kleineren“ Schonvermögens erhielt, dieses Schonvermögen. Das BVerwG betont allerdings in ständiger Rechtsprechung, die §§ 45, 50 SGB X stellten ein geschlossenes System der Rücknahme von Verwaltungsakten und der Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen dar (BVerwGE 91, 13).
Den Erben steht allerdings ein nachlassbezogener (nicht erbenbezogener) Freibetrag in Höhe von derzeit 2.070 Euro zu (3-facher Grundbetrag nach § 85 I Nr. 1 SGB XII).
Ein Tipp von RA Ruby
Die Erben haften mit dem Wert des zum Todeszeitpunkt vorhandenen Nachlasses, § 102 II 2 SGB XII. Wertverluste zwischen Todestag und dem Zeitpunkt des behördlichen Verwaltungsaktes bzw. Widerspruchsbescheid wirken sich also nicht zu Lasten des Sozialleistungsträgers aus. Andererseits haftet nur der Nachlasswert, so dass Erwerbe durch Rechtsgeschäfte unter Lebenden auf den Todesfall (Lebensversicherungen !) nicht einzubeziehen sind. Allerdings ist der Nachlass – abgesehen von einem Sockelbetrag in Höhe von 2.070 Euro) vollständig, d.h. einschließlich der früheren Schonvermögensteile zu verwerten. Die Schonvermögenseigenschaft also solche vererbt sich also nicht mit dem Gegenstand selbst (BGH Mannheim, NJW 1993, 2956). Mit dem Ableben des Hilfeempfängers wird aus der grds. „verlorenen Sozialleistung“ nachträglich in diesem Umfang plötzlich ein zinsloses Darlehen. Selbst wenn der Hilfeempfänger bei Günter Jauch oder im Lotto kurz vor seinem Tod gewonnen hätte, wäre nach seinem Tod für die der Sozialleistungsbezuges innerhalb der letzten zehn Jahre vor seinem Tod von den Erben zurückzuzahlen.
Merke: § 102 SGB XII kennt kein Schonvermögen !
Aber (BayVGH, BayVBl 1994, 312): Sofern der Erbe an dem ererbten Vermögen bereits vor dem Erbfall beteiligt war und dieses vor und nach dem Erbfall sowohl in der Hand des Hilfeempfängers als auch des Ehegatten Schonvermögen bildete, sei § 92c BSHG (a.F. = § 102 SGB XII) seinem Sinn und Zweck nach nicht anzuwenden (teleologische Reduktion). Das Urteil betraf ein landwirtschaftliches Anwesen, das der Hilfeempfänger und sein nicht getrennt lebender Ehegatte in Gütergemeinschaft hielten; der Gesamtgutanteil des Hilfeempfängers fiel nach dessen Tod vollständig an den Ehegatten, der die Landwirtschaft fortführte.
In die gleiche Richtung, Hüttenbrink, S. 214, der eine „besondere Härte“ i.S.v. § 102 III Nr. 3 SGB XII annimmt, wenn das ererbte Vermögen auch für den Erben ein Schonvermögen i.S.v. § 90 II Nr. 8 SGB XII darstellt:
Beispiel (nach Hüttenbrink): Der Erbe erbt ein kleines Einfamilienhaus, das er nur mit seiner Familie bewohnt. Sind der Erbe und seine Familie selbst Sozialleistungsberechtigte, so könnte der Sozialhilfeträger wegen der Sozialhilfe zu Gunsten des Erben nicht die Verwertung des Hauses verlangen (§ 90 II Nr. 8 SGB XII). Dann wäre es aber eine besondere Härte, wenn der Sozialhilfeträger die Verwertung wegen der Erbschaft nach § 102 SGB XII verlangen würde. Die Frage ist, ob man den Fall, dass jemand das Haus schon vor dem Leistungsbezug geerbt hat, nicht anders behandeln darf, als wenn er das Haus nach dem Sozialleistungsbezug erbt.
§ 102 II 1 SGB XII definiert die Ersatzpflicht des Erben als „Nachlassverbindlichkeit“, und ordnet die Beschränkung der Haftung auf den Nachlasswert (nicht bloß die Nachlassgegenstände) zur Zeit des Erbfalls an. Spätere Wertverluste oder die Weggabe von Nachlassgegenständen vor der Inanspruchnahme durch den Sozialleistungsträger können den Erben also nicht entlasten; insoweit muss er gegebenenfalls sein Eigenvermögen einsetzen.
Der „Wert des Nachlasses“ umfasst wie in § 2311 BGB (Pflichtteilsberechnung) den Aktivbestand abzüglich der bereits zum Zeitpunkt des Erbfalls in der Person des Schuldners begründeten Verbindlichkeiten (Erblasserschulden) und solcher Erbfallschulden, die auch vorliegen würden, wenn man allein die gesetzliche Erbfolge zugrunde legt: Wie im Pflichtteilsrecht (Erbersatzfunktion des Pflichtteilsrechts) bleiben demnach Verpflichtungen unberücksichtigt, die auf Verfügungen von Todes wegen des Erblassers beruhen, insbesondere also Pflichtteilsansprüche selbst, ebenso Vermächtnisse (auch gesetzliche, wie § 1371 IV BGB – Ausbildungsanspruch des Stiefkindes aus dem erhöhten Viertel) und Auflagen, zumal diese den Pflichtteilsansprüchen gem. § 327 I Nr. 2, 3 InsO nachgehen . Abzugsfähig sind allerdings die Beerdigungskosten (§ 1968 BGB – nicht allerdings die Kosten der laufenden Grabpflege), der Anspruch des überlebenden Ehegatten auf familienrechtlichen Zugewinn nach § 1371 II, III BGB sowie Kosten der Nachlasssicherung und Nachlassverwaltung sowie der Ermittlung der Nachlassgläubiger (BayVGH, FamRZ 2004, 489) – es handelt sich insoweit um solche Erbfallschulden deren Rechtsgrund bzw. Erfüllungsnotwendigkeit auf den Todesfall zurückgeht oder deren Erfüllung den Pflichtteilsberechtigten auch getroffen hätte, wenn er gesetzlicher Erbe geworden wäre (vgl. J. Mayer, in Bamberger/Roth, BGB, § 2311 Rn. 9). Nicht abzugsfähig sind jedoch Nachlasserbenschulden (also etwa Verbindlichkeiten aus der Fortführung eines zum Nachlass gehörenden Unternehmens), und erst recht nicht Eigenschulden des Erben, ebenso wenig die allein dem Erben nützlichen Aufwendungen (wie etwa Kosten der Testamentseröffnung und der Erbscheinserteilung (OLG Stuttgart, JABl BW 1978, 76). Ein Vorrang des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs gegenüber sonstigen Nachlassverbindlichkeiten besteht nicht (BayVGH, 12 B 99.1700; FamRZ 2004, 489).
Mehrere Erben haften gesamtschuldnerisch (vgl. § 2058 BGB); der Anspruch erlischt drei Jahre nach dem Sterbefall (§ 102 IV SGB XII).
Die Heranziehung der Erben zum Kostenersatz ist – von den gesetzlichen Härtefällen abgesehen – durch den Sozialleistungsträger zwingend vorzunehmen; ist der Nachlass jedoch nur zum Teil heranzuziehen, besteht ein (an der Leistungsfähigkeit der Miterben orientiertes) Auswahlermessen (VGH Kassel, FamRZ 1999, 1023).
Eine weitere Privilegierung besteht hinsichtlich solcher Erben, welche den Hilfeempfänger bis zu seinem Tode in häuslicher Gemeinschaft gepflegt haben, soweit der Wert des Nachlasses unter 15.320 Euro (30.000 DM) bleibt (§ 102 III Nr. 2 SGB XII = Kürzungsvorschrift, VGH Mannheim, NJW 1993, 2955).
Der Anspruch auf Kostenersatz gegen die Erben erlischt in drei Jahren nach dem Tod des Hilfeempfängers.