Pflichtteilsentziehung und Verzeihung. Erklärt von Rechtsanwalt Gerhard Ruby, Fachanwalt für Erbrecht. Baden-Württemberg, Deutschland.
Pflichtteilsentziehung und Verzeihung
Frage:
Ich bin das einzige Kind meines verstorbenen Vaters. Er hat seine Lebensgefährtin in seinem Testament zur Alleinerbin eingesetzt. Mir hat er den Pflichtteil entzogen, weil ich einige Jahre im Gefängnis wegen schwerer Straftaten einsaß. Das hat mich nun doch sehr überrascht. Wir haben nämlich nach Verbüßung meiner Haftzeit mehrmals gemeinsam Weihnachten gefeiert, mein Vater hat mir finanzielle Unterstützung angeboten und moralischen Beistand geleistet. Ich glaube, dass er in Wirklichkeit das Testament so errichtet hat, weil mein Vater inzwischen wohl wieder seine Meinung über mich geändert hat, nachdem seine Lebensgefährtin in Spiel kam. Kann ich meinen Pflichtteil verlangen?
Antwort:
Ja, sie können ihn verlangen, da Ihr Vater Ihnen verziehen hatte und kein neuer Pflichtteilsentziehungsgrund vorliegt.
Die von Ihnen begangenen Straftaten könnten zwar einen Pflichtteilsentziehungsgrund darstellen. Allerdings kommt keine Pflichtteilsentziehung in Betracht, wenn Ihnen Ihr Vater verziehen hat. Das ist der Fall.
Eine Verzeihung liegt vor, wenn der Erblasser durch sein Verhalten zeigt, dass er die durch die Tat des Pflichtteilsberechtigten hervorgerufene Kränkung nicht mehr als solche empfindet. Eine Verzeihung ist ein unwiderrufliches tatsächliches Verhalten, das sich auch in schlüssigen Handlungen ausdrücken kann. Hierzu reicht es, wenn im Verhalten des Erblassers ein Wandel zur Normalität stattgefunden hat und familiäre Beziehungen wieder aufgenommen werden. So war es bei Ihnen. Eine Verzeihung kann nicht wieder einfach zurückgenommen werden. Die Meinungsänderung stellt keinen neuen Pflichtteilsentziehungsgrund dar, der für eine wirksame Pflichtteilsentziehung hätte vorliegen müssen.
Tipp:
Lesen Sie bitte OLG Nürnberg vom 8. Mai 2012, 12 U 2016/11